Unsicherheit in der Erziehung
Sie ist eines der ungeliebten Gefühle: die Unsicherheit. Ich glaube, es gibt nicht viele Menschen, die ihr etwas abgewinnen können. Und doch habe ich Anfang 2020 die Philosophin Dr. Natalie Knapp kennengelernt, die die Unsicherheit verteidigt und sogar wertschätzt. Neulich sind mir die Notizen in die Hände gefallen, die ich während ihres Vortrages zum Thema Unsicherheit gemacht habe. Obwohl es in ihrem Vortrag nicht um Erziehung ging, finde ich es passend und interessant, ihre Ausführungen in diesen Zusammenhang zu setzen.
Warum Unsicherheit keine Inkompetenz ist
Vielleicht kennst du das, wenn man im Alltag mit Kindern unsicher wird. Soll ich mich jetzt so oder so verhalten? Häufig entscheidet man aus dem Bauch heraus, weil für tiefschürfende Gedanken, was nun die pädagogisch wertvollere Option ist, keine Zeit ist. Und es verbleibt vielleicht ein nagendes Gefühl von Unsicherheit. Besonders, wenn die Situation dann nicht so lief, wie du dir das vorgestellt hast. Hätte ich doch anders handeln sollen?
Dr. Knapp führte in ihrem Vortrag aus, dass es kein Zeichen von Inkompetenz ist, sich unsicher zu fühlen. Die Unsicherheit macht aufmerksam: „Das ist keine Routinesituation! Das hier ist unbekanntes Gebiet! Hier kennst du dich nicht aus.“ Wenn ich nun an Kindererziehung denke, ist doch ganz logisch, dass Eltern immer wieder Unsicherheit spüren. Denn ein Kind entwickelt sich immer weiter, ständig müssen Eltern die neuen Fähigkeiten und Bedürfnisse ihres Kindes in ihr Handeln und ihre Erziehung einbeziehen. Gestern oder letzten Monat war vielleicht ganz glasklar, dass mein Kind nicht alleine zur Schule geht. Das muss heute aber nicht mehr gelten, weil sich zeigt, dass mein Kind inzwischen den Weg genau kennt und sich im Verkehr sicherer bewegt. Wenn mein Kind fragt, ob es alleine zur Schule gehen darf, ist Unsicherheit also angebracht, weil es genau diese Situation noch nie gab. Selbst mit dem zweiten, dritten oder achten Kind kann man keine Regel der Art „Mit 6,72 Jahren kann mein Kind alleine zur Schule gehen“ entwickeln. Denn jedes Kind ist anders, traut sich mehr oder weniger zu, ist mehr oder weniger verträumt und vielleicht haben sich auch die Lebensumstände verändert und man wohnt inzwischen an dieser großen, unübersichtlichen Kreuzung. Und das macht das Eltern-sein manchmal so anstrengend: Jeden Tag stellt man sich dem unbekannten Gebiet und man weiß häufig erst Jahre später, ob man einen guten Weg eingeschlagen hat. (Zum Glück gibt es eigentlich immer nicht nur einen richtigen Weg, sondern viele Wege, die zum Ziel führen.)
Unsicherheit oder Angst?
Laut Dr. Knapp sei es wichtig, sich bewusst zu machen, dass diese Botschaft der Unsicherheit ganz anders ist als die Botschaft der Angst. Angst setzt in Situationen ein, in denen wir etwas Schlimmes, vielleicht sogar Lebensbedrohliches erwarten. Sie sorgt dafür, dass wir schnell handeln können, ohne nachzudenken. Wenn wir erst grübeln würden, ob jetzt wohl Kampf, Flucht oder tot stellen am besten wäre, wären wir längst ausgestorben. Angst beschleunigt also unser Handeln und schaltet den Kopf aus.
Bei Unsicherheit hingegen sollte das Handeln verlangsamt werden. Unsicherheit will uns dazu bewegen, innezuhalten und genau hinzuschauen. Bevor ich ausführe, wie dies funktioniert, möchte ich darauf hinweisen, dass leider nicht nur Angst, sondern auch Stress den Kopf ausschaltet. Deshalb vergessen gestresste Menschen beim Einkauf die Milch oder wo sie den Schlüssel hingelegt haben oder das die beste Freundin Geburtstag hat. Wenn nun also die Unsicherheit in einer stressigen Situation auftaucht, haben wir ein Problem. Unser Stress sagt uns: „Schnell, schnell, es ist schon so spät. Ich habe jetzt keine Zeit auszudiskutieren, warum mein Kind im Winter kein Kleid anziehen kann.“ Der Kopf wird ausgeschaltet und es wird gehandelt. Ich reiße meinem Kind das Kleid aus den Händen, ziehe ihm einen Pullover über den Kopf und so weiter. Die Unsicherheit sagt uns: „Moment mal, ich fühle mich irgendwie unwohl, wie ich hier so herumkommandiere und grob handele. Ist das hier wirklich eine lebensbedrohliche Situation?“ Diese leise Stimme der Unsicherheit geht in Stresssituationen häufig unter, da der Kopf schon ausgeschaltet ist. Wenn wir sie aber wahrnehmen, haben wir laut Dr. Knapp zwei Handlungsoptionen.
Wie verwandel ich Unsicherheit in Sicherheit?
Entscheidungshilfe beim geistigen Handeln
• Was spricht dafür? (Z.B. Mein Kind verbringt bei der Übernachtung Zeit mit der Freundin und wir Eltern haben mal wieder sturmfrei. / Mein Kind freut sich.)
• Spricht etwas dagegen? (Z.B. Mein Kind hat schon die letzten beiden Wochenenden dort geschlafen, sollten und ich weiß nicht, ob die anderen Eltern das so toll finden. / Es ist kurz vor dem Abendessen. Ist mein Kind dann schon vom Schokoriegel satt und isst kein Gemüse mehr?)
• Lassen sich einige Argumente leicht beseitigen? (Z.B. Ich könnte die anderen Eltern fragen, ob es ihnen zu viel wird. / Wenn es den Schokoriegel nach dem Essen gibt, kommt er dem Gemüse nicht in die Quere.)
• Abwägen: Überwiegen die Vor- oder die Nachteile? Welchem Argument gebe ich aus welchem Grund am meisten Gewicht? Geht es dabei um mein Bedürfnis oder um das Bedürfnis des Kindes?
• Mögliche Ergebnisse abseits von ja und nein: Kann ich dem Wunsch meines Kindes in Teilen nachkommen (z.B. ein halber Schokoriegel; den Film erlauben, aber nicht im Kino, sondern in ein paar Wochen auf DVD; einen Kinobesuch erlauben, aber für einen anderen Film; Übernachtung erlauben, aber im eigenen Haushalt) oder einen Alternativvorschlag machen?
Das Nein
Oftmals laufen diese Gedanken vielleicht unbewusst bei dir ab. Und das kann häufig viel Zeit sparen. Es lohnt sich allerdings, sich den Prozess bewusst zu machen, wenn du Nein sagen möchtest oder du oft mit deiner Erziehung unzufrieden bist. Denn elterliche „Neins“ sind umso wirkungsvoller, je seltener sie fallen und je stärker deine eigene Überzeugung dahinter ist. Ein aus dem Bauch heraus gesprochenes „Nein“ mit dem nagenden Gefühl der Unsicherheit („Ist denn der eine Schokoriegel wirklich schlimm? Wäre ein „Ja“ nicht auch ok gewesen?“) merkt dein Kind oftmals an deiner Stimme, Mimik oder Körperhaltung. Es bittet also weiter und schließlich ist es dir zu anstrengend, eine halbherzige Überzeugung aufrecht zu erhalten. Diese Erfahrung, dass „Nein“ nicht immer „Nein“ bedeutet, merkt sich dein Kind. Das soll nicht heißen, dass Eltern nie ihre Meinung ändern dürfen. Aber je klarer und eindeutiger sie sind, desto mehr Orientierung und Verlässlichkeit bieten sie ihrem Kind. (Und du sparst dir als Nebeneffekt viele Diskussionen.) Ich möchte also ein Plädoyer für mehr geistiges Handeln in der Erziehung aussprechen. Bei der unbewussten Entscheidungsfindung werden häufig nur die ersten beiden Punkte der obigen Liste bedacht und man fixiert sich vorschnell auf ein leicht zu beseitigendes oder bei näherer Betrachtung unsinniges Argument. Die Arbeit und Zeit, die man in das geistige Handeln steckt, zahlt sich aus meiner Sicht aus. Und bei den ganz großen Themen oder den kleinen, die immer wieder auftauchen, lohnt es sich besonders, die Expertise anderer zu nutzen. Deine Unsicherheit ist bei mir in der Beratung daher herzlich willkommen!
Wie sieht du das? Wie gehst du mit Unsicherheit um?
Wenn du mehr zum Wert der Unsicherheit erfahren möchtest, kannst du dies in Dr. Natalie Knapps Buch „Der unendliche Augenblick – Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind“ tun.
Und einen fünfminütigen Ausschnitt aus ihrem Vortrag, findest du hier.